„Ich liebe Aufräumen“

Foto von Lina S.
Ich liebe Aufräumen. Manchmal denke ich, ich bin richtig süchtig danach. Ich weiß, viele von euch werden mich jetzt beneiden oder sagen, ich solle doch mal zu euch rüberkommen und helfen. Aber im Ernst: Das wollt ihr nicht, bestimmt nicht. Am Ende seid ihr genauso genervt von mir wie meine Eltern und meine Schwester. Das Problem: Ich hab eine ziemlich minimalistische Einstellung. Neulich bin ich mal wieder einen meiner Kartons durchgegangen; denn obwohl ich immer sage, was man nicht benutzt, braucht man auch nicht aufzuheben, hab ich, wie wohl die meisten Menschen, mehrere Umzugskartons mit Erinnerungsstücken. Da kann ich mich einfach nicht von allen trennen. Aber immerhin habe ich das alles schon auf ein Minimum reduziert. Die Kartons nenne ich, mal mehr und mal weniger liebevoll, meinen Papierkarton und meinen Kuscheltierkarton. Im Kuscheltierkarton lagern alle meine Kuscheltiere, die irgendwelche Andenken an z. B. einen Urlaub sind. Der Papierkarton war immer randvoll mit alten Zeichnungen, Kindergarten-Malereien und Flyern, die ich zu irgendeinem Zeitpunkt scheinbar so wichtig fand, dass ich sie unbedingt aufheben musste. Und dann ab in den Karton damit, aus dem Zimmer, aus dem Sinn sozusagen. Beim ersten Mal, als ich einen sehr, sehr, seeehr großen Teil davon weggeschmissen habe, war es nicht sonderlich emotional. Aber neulich ging‘s dann um den etwas härteren Kern. Jedes Bild einzeln nehmen, entscheiden, ob da eine Erinnerung dranhängt. Als ich ein Bild auf Karopapier in die Hand nehme, kommt es mir nicht mal im Ansatz bekannt vor. Als es gefühlt schon halb im Mülleimer liegt, drehe ich es zufällig um, und siehe da, es steht was auf der Rückseite: „Ich bin depri wegen Laura*, der Verräterin.“ Und ein Datum. Und auf einmal kommt die Erinnerung ganz langsam in mir hoch. Das war auf Klassenfahrt in der 7. Klasse, also Ende 2016. Laura, die von fast allen ausgegrenzt wurde, aber meine beste Freundin war, hat an einem Tag was mit einer anderen Freundesgruppe gemacht. Ihr mögt das Drama jetzt nicht verstehen. Ich tu’s auch nicht. Aber ich und die anderen aus unserem Zimmer haben uns sehr verraten gefühlt, sodass letztendlich sogar eine Mitschülerin vermitteln musste.


Und eine Erinnerung führt zur anderen. Auf der Klassenfahrt haben meine Stimmungsschwankungen angefangen, weil eine Freundin Liebeskummer hatte. Und auf dieser Klassenfahrt haben mich eben diese und noch eine andere Freundin forever traumatisiert, indem sie im Dunkeln im Bett, als ich eigentlich hätte schlafen sollen, über „Apfel“ und „Ladekabel“ geflüstert haben. Klingt jetzt nicht schlimm, aber dann hab ich rausgefunden, wofür das Codenamen waren: „Ritzen“ und „Rasierklinge“. Seitdem hab ich Angst, wenn jemand im Dunkeln flüstert, während ich im Bett liege. Oder sogar, wenn Menschen flüstern oder leise reden, sodass ich zwar höre, dass sie reden, aber nicht, was sie reden. Ja ja, man sollte meinen, Zeit heilt alle Wunden, aber nein. Solche nicht.

Diese Erinnerung führt zu einer Erinnerung von Juni 2020 und in ganze Umzugskartons voll Erinnerungen, die normalerweise fest zugeklebt in meinem Kopf lagern, irgendwo, wo ich sie nicht sehen kann. Aber nun sind sie offen, und alles, was ich tun kann, ist, sie mit aller Kraft zuzuhalten, denn die Erinnerungen da drin sind nicht gerne eingesperrt. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke: Eigentlich lagern diese Kartons nicht einmal in einem versteckten Winkel in meinem Kopf. Eigentlich hab ich sie in einen externen Lagerraum geschlossen, einen Keller oder einen Dachboden irgendwo. Das Problem ist nur, dass es Schlüssel gibt. Bestimmte Lieder, andere Erinnerungen, Redewendungen anderer Menschen. Oder Gesichter. Man sollte meinen, nach einem halben Jahr (doch schon so lange ...) hätte die Zeit ihre Arbeit erledigt und wenigstens ein paar Erinnerungen entemotionalisiert oder gar direkt in den Schredder geworfen, aber nein. Das ist scheinbar noch nicht passiert. Oder vielleicht öffnet die Zeit auch einfach langsam die Kartons und lässt immer mal wieder eine Erinnerung frei? Damit ich mich an sie gewöhnen kann? Dann heilt die Zeit vielleicht doch keine Wunden, sondern man lernt nur, mit dem Schmerz zu leben? Na ja, bei meinen Kartons scheint ja die Zeit bisher weder mit dem einen noch mit dem anderen angefangen zu haben. Vielleicht wird sie es nie tun, ich weiß es nicht. So lange jedenfalls bleiben diese Kartons erst mal auf dem Dachboden eingeschlossen. Und das Bild wandert zurück in den Papierkarton.

von Lina S.