"Wir haben mehr Leute namens Lukas in unserem Kurs als Mädchen"

Über ungleiche Geschlechterverteilungen in den Leistungskursen, ein vielfältiges Abitur und weibliche Physikgenies

Foto von Anna-Maria W.
Geschlechterunterschiede tauchen in unserem Alltag immer wieder auf. Ob in Beruf, Freizeit, Politik oder in der Schule - die Liste ist unendlich lang. Gerade im schulischen Themenbereich steht dies immer wieder zur Diskussion: "Mädchen sind doch eh' viel besser in Deutsch" oder "In Sport haben Jungs doch sowieso einen Vorteil". Je älter wir werden, desto mehr zeichnen sich diese Unterschiede in den Fächern selbst und somit auch in den Fachwahlen in der Oberstufe ab. So wählen Mädchen vermeintlich häufiger das sprachliche Profil, während Jungs eher auf Naturwissenschaften oder Sport setzen. So sind in einem Physikleistungskurs in der jetzigen Q1 nur drei Mädchen, im Vergleich dazu aber vier Jungs mit Namen Lukas (bzw. Lucas). Doch lassen sich diese Unterschiede verallgemeinern? Und wenn ja, woran liegt das?

"Sprachen sind doch Mädchensache!" - so lautet nur eines von vielen Klischees über die verschiedenen Geschlechterverteilungen in den Unterrichtsfächern. Häufig werden Mädchen eher sprachliche Fähigkeiten zugeschrieben, zum Beispiel in Deutsch oder Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch. Aber auch Kompetenzen in künstlerisch-kulturellen Fächern wie Religion oder Kunst fallen eher in den weiblichen Klischeebereich. Bei den Stärken der Jungen denkt man sofort an Sport, aber auch an den naturwissenschaftlichen Bereich, auch MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Daher sind in der folgenden Statistik die Fächer Deutsch, Englisch, Kunst, Religion, Physik, Sport, Mathematik und Biologie aufgeführt.

Hierzu sind vor allem die Kursverteilungen der jetzigen Q1 und Q2 interessant. Besonders die Leistungskurse sind hierfür ausschlaggebend, da diese meist nach persönlichen Stärken gewählt werden. Die Statistik bildet jeweils die Verteilungen der Jungen und Mädchen in den jeweiligen Leistungskursen der jetzigen Q1 und Q2 ab. Hierzu ist zu sagen, dass es in manchen Fächern zwei Leistungskurse pro Jahrgang gibt. Deswegen weichen die eigentlichen Geschlechterverteilungen in den Kursen teilweise ab, da die Statistik nicht die zufällige Kursverteilung sondern das tatsächliche Wahlverhalten der Schüler*innen abbilden soll.


In dieser Statistik zeigt sich, dass sich in einigen der Leistungskurse eine eindeutige Mehrheit eines Geschlechtes abzeichnet. In den Fächern Deutsch und Kunst dominieren die Mädchen mit 94,3% bzw. 91,3% und mit 94,1% bzw. 100% am meisten, allerdings herrscht auch in Englisch mit 86,7% bzw. 76,5% und in Religion mit 67,9% bzw. 85,7% ein starker Mädchenüberschuss. Diese Fächer sind aus dem sprachlichen Bereich oder kulturell-künstlerisch konnotiert. Bei den Jungen zeigen sich die dominierenden Fächer zwar auch deutlich, aber dennoch sind sie nicht so stark ausgeprägt wie die vermehrt weiblich besetzten Fächer. Am meisten
überwiegen die Jungen in dem Fach Physik mit 77,1% bzw. 77,3%, danach folgt das Fach Sport mit 68,4% bzw. 64,3% Jungenanteil. In den beiden anderen naturwissenschaftlichen Fächern der Statistik sind die Geschlechterverteilungen eher ausgeglichen. So befinden sich 56,2% bzw. 59,1% Jungen in den Mathematik- und 56,8% bzw. 52,2% Jungen in den Biologiekursen.




Doch womit lassen sich diese Unterschiede im Wahlverhalten erklären? Ein möglicher Grund sind tatsächliche, geschlechtsabhängige Unterschiede in den verschiedenen fachlichen Bereichen.

Die PISA-Studie aus dem Jahr 2001 untersuchte hierfür geschlechtsspezifische Unterschiede in den Leistungen der Bereiche der Lesekompetenz und der mathematischen Grundbildung an etwa 180.000 Schüler*innen in 31 Ländern. Im Bereich der Lesekompetenz erzielten die Mädchen in jedem Land deutlich höhere Werte als die Jungen. Im Bereich der mathematischen Grundbildung erreichten die Jungen in fast allen Ländern höhere Werte als die Mädchen, allerdings sind hier die Unterschiede etwas weniger stark ausgeprägt als bei der Lesekompetenz. Untersucht wurde auch die naturwissenschaftliche Grundbildung, allerdings waren hier die Ergebnisse in den Ländern sehr unterschiedlich und insgesamt eher ausgeglichen. Scheinbar sind die Unterschiede in der Mathematik und den Naturwissenschaften folglich nicht so deutlich wie im Bereich der Lesekompetenz. Da die Lesekompetenz ein wesentlicher Teil der sprachlichen Fächer ist, deckt sich diese Erkenntnis mit der Geschlechterverteilung in unseren sprachlichen Leistungskursen. Doch wie ist das bei den Naturwissenschaften? Eine nicht ganz aktuelle Studie der OECD, die 3. Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftliche Studie, die "Trends in International Mathematics and Science Study" (TIMSS) aus 1994/1995 zeigte schon in der vierten Klasse eine Tendenz besserer Leistungen der Jungen in der Mathematik und in Naturwissenschaften. Dieselbe Studie wurde auch in der achten Klasse und in der Sekundarstufe II durchgeführt. Hier zeichneten sich mit wachsender Klassenstufe auch deutlichere Unterschiede der Leistungen zugunsten der Jungen ab. Allerdings sind die Unterschiede in den Naturwissenschaften auch größer als in der Mathematik. Dies deckt sich also mit den Geschlechterverteilungen in unseren Leistungskursen, da sich auch hier stärkere Unterschiede in Naturwissenschaften wie Physik abzeichnen als in Mathematik. Allerdings werden in den Studien die tatsächlichen Leistungen abgebildet, während die eigene Leistung in den einzelnen Fächern nicht der einzige Grund für die Wahl der Leistungskurse ist.

Ein weiterer möglicher Grund sind die Wahlmöglichkeiten und die damit verbundenen Profile für die Leistungskurse. Denn bei diesen wird strikt zwischen naturwissenschaftlichen und sprachlichen Fächern getrennt.


Doch wie funktionieren die Fachwahlen der Prüfungsfächer für das Abitur?
In Niedersachsen gibt es fünf Prüfungsfächer (P1 bis P5), wobei P1 bis P3 auf erhöhtem Niveau (Leistungskurse), P4 und P5 auf grundlegendem Niveau (Grundkurse) zu belegen sind. Unter allen fünf Prüfungsfächern müssen zwei Hauptfächer vorkommen, ebenso muss je ein Fach aus drei verschiedenen Bereichen (A, B, C) belegt werden. Die Bereiche sind in den sprachlichen (Deutsch, Englisch, Fremdsprache), naturwissenschaftlichen (Mathe, Biologie, Physik, ...) und gesellschaftswissenschaftlichen (Geschichte, Erdkunde, Religion, Musik, ...) Teil gegliedert. P1 und P2 müssen aus sogenannten Profilen gewählt werden (siehe Grafik) und zählen später auf dem Abiturzeugnis doppelt. Vorgegeben ist, dass es an allen niedersächsischen Schulen das sprachliche sowie das naturwissenschaftliche Profil geben muss, dass musisch-künstlerische und gesellschaftswissenschaftliche Profil wird nur empfohlen, Letzteres muss zwei Gesellschaftswissenschaften enthalten. Das sportliche Profil kann nur angeboten werden, wenn die Schule die dafür nötigen Voraussetzungen hat. Am HAG werden alle Profile angeboten.

An unserer Schule ist zusätzlich das dritte Prüfungsfach aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Bereich (Erdkunde, Philosophie, Politik, Religion) festgelegt. Dadurch kann P2 beim gesellschaftswissenschaftlichen Profil frei gewählt werden. Jede*r Schüler*in muss eines dieser Fächer als Leistungskurs belegen und somit mit in das Abitur einbringen. Außerdem ist es durch diese Festlegung auch nicht möglich, beispielsweise Deutsch und Mathe als Leistungskurs zu belegen. Doch schränkt dies nicht eine*n Schüler*in ein, seine*ihre Stärken im Abitur zu zeigen und so die besten Noten zu bekommen?

Durch diese Vorgaben kann ein*e Schüler*in nicht unbedingt alle eigenen Stärken zeigen. So kann als Leistungskurs eben keine Sprache mit einer Naturwissenschaft kombiniert werden. Diese würden dann im Abitur insgesamt mehr zählen und der Schnitt wäre wohl besser. Doch würde ein vielfältiges Abitur nicht auch heißen, dass theoretisch jede*r Schüler*in seine*ihre individuellen Stärken im Abitur zeigen kann - unabhängig von verschiedenen Vorgaben?

Allerdings soll das Abitur so vielfältig wie möglich sein, weshalb es genau diese Vorgaben gibt. So ist das Abitur - die allgemeine Hochschulreife - wohl insgesamt vergleichbarer, wenn eben jede*r mindestens eine Sprache, eine Gesellschafts- sowie eine Naturwissenschaft als Prüfungsfach hat. Zu P3 - einer Gesellschaftswissenschaft - meint Frau Harms, Koordinatorin der Oberstufe: "An unserer Schule wollen wir, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit gesellschaftlichen Fragen in einem Leistungskurs beschäftigen, dies sind eben die Fächer Philosophie, Religion und Politik, Erdkunde vielleicht eher weniger." Außerdem denkt sie, dass ein vielfältiges Abitur nicht durch die Profile eingeschränkt wird.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Profile die klischeehaften Fächerwahlen zusätzlichen bestärken. Würde beispielsweise ein Mädchen eher Physik als Leistungskurs wählen, wenn sie dies mit einer Sprache kombinieren könnte? Hierbei kann jedoch auch genau das Gegenteil passieren: Hätten diejenigen, die jetzt Physik als Leistungskurs gewählt haben, dies auch getan, wenn sie beispielsweise Mathe auch mit einer Sprache kombinieren hätten können? Diese Fragen sind wohl kaum zu beantworten, schließlich ist eben genau dies nicht möglich, weshalb es dazu auch keine Umfragen oder Statistiken gibt. Es ist vermutlich so, dass es beide Fälle geben würde, wenn es nunmal möglich wäre. Letztendlich würde es wohl darauf hinauslaufen, dass die Geschlechterverteilungen ähnlich aussehen würden, wie sie jetzt sind.

Auf jeden Fall ist es wichtig zu betonen, dass es selbstverständlich Unterschiede zwischen den Leistungen und den Geschlechtern gibt. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass diese auf keinen Fall zu pauschalisieren sind. Auch wenn tendenziell Mädchen bessere Leistungen in Sprachen aufzeigen, gibt es zweifellos auch Jungen mit deutlichen sprachlichen Talenten. Andersherum gilt dies genauso für Mädchen und Naturwissenschaften. Daher ist es wichtig, dass uns diese Geschlechterrollen, die es in unserer Gesellschaft nun einmal gibt, nicht leiten lassen. Denn so unterschiedlich wir Menschen sind auch unsere Stärken und Schwächen. Denn wir können auch etwas tun, um diesen Geschlechterunterschieden entgegenzuwirken. Herr Rachow, Lehrer für Mathematik und Physik an unserer Schule, findet, "dass heterogene Kurse, Klassen, Teams ... zu besseren Ergebnissen kommen, gerade weil verschiedene Charaktere verschiedene Ideen einbringen." Daher sollten auch Frauen in MINT-Fächern repräsentiert sein, auch weil so der Grundstein dafür gelegt wird, dass Frauen später beruflich ähnliche Richtungen einschlagen. Doch wie gewinnt man nun Schüler*innen für Kurse, die eher untypisch für ihr Geschlecht sind?

Herr Rachow versuche beispielsweise gezielt "Mädchen für das Fach Physik zu gewinnen, wenn sie ohne das gezielte Nachfragen einen Physik-LK eventuell nicht in Betracht ziehen würden." Da er beobachtet habe, dass sich gerade in Physik zum Ende der Sekundarstufe I die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen im Hinblick auf das Interesse an und die Leistungen in Physik größer werden, versuche er, "neben zunehmenden mathematischen Methoden in der Physik eben weiterhin das Alltagsphänomen, das Experiment und die naturwissenschaftliche Beobachtung in den Mittelpunkt zu stellen."

Auch wenn die teils ungleichen Geschlechterverteilungen in unseren Kursen unter anderem ein Ausdruck tatsächlicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern sein mögen, sie sind auch ein Zeichen für Stereotype. Wenn wir es schaffen würden, diese abzubauen, würde sich die Geschlechterverteilung mit Sicherheit etwas ausgleichen. Ob sie tatsächlich komplett ausgeglichen sein könnte, das lässt sich nicht sagen. Aber muss sie das überhaupt? Letztendlich ist doch vor allem wichtig, dass jede*r frei nach seinen*ihren Stärken entscheidet.

Von Rieke D. und Anna-Maria W.
Fotos und Statistiken: Anna-Maria W. und Rieke D.