Das große Zittern – Schule während Corona

 

 

 Vorab: Ein Großteil dieses Textes ist im November verfasst worden, doch dazu später mehr.

Wind, Sprühregen und vor allem eisige Kälte. Das erwartet Schüler*innen momentan in den Pausen niedersächsischer Schulen. Denn das Hygienekonzept sieht klar vor, dass man sich in den Pausen oder in Freistunden fast nur draußen aufhalten darf. Während das am HAG für den A-Turm und den B-Turm schon immer die Regel war, durften sich die anderen Schüler*innen in den Pausen, Freistunden oder Arbeitsphasen durchaus in den Begegnungszentren oder Klassenräumen aufhalten. Seit Corona ist dies nicht mehr möglich, es gibt somit eine Verpflichtung, sich in den jeweiligen Aufenthaltsbereichen auf dem Schulhof aufzuhalten. Für die Oberstufe, das sind der Jahrgang 11, die Q1 und die Q2, also über 350 Schüler*innen, ist dies die Wiese vor dem C-Turm. Was im Sommer sehr angenehm war, stellt uns im Herbst und Winter vor klitzekleine Herausforderungen. Zum einen ist es im Winter etwas kälter als im Sommer. Gar kein Problem, da wir in den Klassenräumen noch lüften müssen, können wir Schal und Winterjacke aus dem Unterricht direkt für die Pause anbehalten. Hier scheidet sich allerdings die Klassengesellschaft: Wer Schal und eine winddichte Jacke dabeihat, ist sehr gut aufgestellt, da der Wind sich um die Ecke des C-Turms genauso wohlfühlt wie wir. Besonders angesehen sind die, die sogar Mütze und Handschuhe dabeihaben. Mit Handschuhen essen sich Pausenbrote sowieso viel leichter.

Foto von Hannahlyse

Doch das ist nicht alles: Denn nicht nur bei Niederschlag, auch morgens ist das Gras der Wiese oft noch feucht vom Tau. Kein Problem, unsere Rucksäcke und Taschen sind selbstverständlich alle von unten gegen Schlamm und Matsch geschützt. Aber gibt es bei Regen nicht eigentlich Regenpause? Jaaa, allerdings hat beim letzten Mal leider die Kommunikation unter den Pausenaufsichten nicht ganz funktioniert, weshalb wir uns trotz des offensichtlichen Regens nicht nach drinnen begeben durften – Regen sei nur, wenn die Schulleitung es sagt! Da einigen Schüler*innen der matschige Rasen nicht so lieb ist, stehen nun all diese Schüler*innen dort auf dem Weg, der vom Parkplatz zum Haupteingang führt. Somit darf jede Person, die zum Beispiel aufgrund von Unterrichtsentfall in den Pausen zur Schule kommt oder nach Hause geht, mit ganz vielen Menschen ohne Maske, denn es ist ja draußen, (physischen) Kontakt aufnehmen, um auf kürzestem Weg zum Haupteingang zu gelangen. Richtig, die Wegeführung. Dafür wird aber dann besonders kräftig drauf geachtet, wenn sich sonst niemand anderes auf jener Treppe befindet. Aber wenn die Regeln vorsehen, dass der Weg durch den Haupteingang, vorbei an mehreren Menschenmassen und mit längerem Weg durch die Innenräume der Schule, der optimale sei, dann ist das eben so.

Ich werde zynisch. Ich bin auch weit davon entfernt, mich darüber zu beklagen, welche Maßnahmen die Schule für den Infektionsschutz ergreift. Ich bin ein ausdrücklicher Fan der Kohortentrennung, der Maskenpflicht im Unterricht und geregelten Orten für die Pausen. Auch dass wir immer noch Tests bekommen würden, obwohl wir vollständig geimpft werden, finde ich großartig. Sitzpläne werden fleißig gepflegt, die Klassen werden informiert, wenn es einen Coronafall gab. Aber: Gerade in der Situation einer Pandemie, in der ohnehin schon genügend Menschen den Kopf verlieren, finde ich es umso wichtiger, einen klaren Kopf und auch den gesunden Menschenverstand zu behalten. "Wir bekommen Chips zur Überwachung geimpft, es ist eine Strategie der Regierung zur Freiheitsberaubung, das Virus existiert gar nicht." Wir alle kennen diese Stimmen und mir scheint, je länger das Ganze dauert, desto obskurer und vor allem lauter werden sie.
Im Kleinen findet sich der Wahnsinn, den die Pandemie bei uns auslöst, auch in der Schule wieder. Ich darf in einer Freistunde, in der sich niemand auf den Fluren befindet, – höchstens vereinzelt für den Besuch bestimmter Örtlichkeiten, aber dann auch sehr flüchtig und mit Maske – nicht ruhig und allein mit Mund-Nase-Bedeckung an einem Tisch der Begegnungszentren arbeiten. Ich darf morgens um halb acht, wenn sich noch niemand in der Schule befindet, nicht den kürzeren Weg zu meinem Unterrichtsraum durch den C-Turm von außen nehmen, auch wenn mir absolut niemand auf der Treppe entgegenkommen könnte. Ich darf in einer Pause nicht in einem sonst leeren Klassenraum mit den ein oder zwei Freunden sitzen, die genauso vollständig geimpft sind wie ich und mit denen ich mich privat ohnehin ohne Maske treffe. Währenddessen dürfte sich der Teil des Jahrgangs, der geimpft ist (es darf offiziell nicht abgefragt werden, aber ich persönlich rechne mit über 95%), unter 2G-Regelung in einem Club ohne Mund-Nasen-Bedeckung oder Abstandsgebot und unter Alkoholeinfluss treffen, in den meisten Clubs sind 100 Menschen kein Problem.

Ich gebe zu, es ist nicht ganz so schlimm, wie ich gesagt habe. Inzwischen drücken viele Lehrkräfte zwei Augen zu, wenn ich mich an den Tischen der Begegnungszentren auf meine Klausuren vorbereite. Und auch im Unterricht darf ich die Maske kurz abnehmen, um etwas zu trinken. Und selbstverständlich könnte ich meine Hausaufgaben auch in der Bibliothek oder in der Cremé machen, das sogar in den Pausen. Also sofern nicht mehr als 20 Personen aus der Q2 mit insgesamt knapp 120 Schüler*innen die gleiche Idee haben (dies sind etwa 17% der Schüler*innen - für die die Cremé der Aufenthaltsort ist). Doch das ändert nichts daran, dass mich Lehrkräfte ermahnt haben, dass ich zehn Meter zu weit links laufe – in einer leeren Pausenhalle mit FFP2-Maske. Dass wir in der Pause nicht ins Sekretariat gehen durften und uns stattdessen in einer riesigen Menschenmasse in den fünf Minuten zwischen Pause und Unterricht unsere Jahrbücher abgeholt haben.
Foto von Hannahlyse



Letztendlich möchte ich, dass wir unseren Verstand nicht verlieren. Denn während wir in der Schule hypersensibel auf jede Minute, auf jeden Meter, auf jede Vorgabe achten; erleben wir in Deutschland aktuell Infektionszahlen von nie gesehener Größe. Die Deltavariante breitet sich rasend schnell aus, wir befinden uns mitten in der vierten Welle, ein Ende oder zumindest eine Senkung der Zahlen ist nicht in Sicht. Es sind aktuell 67,5% der deutschen Bevölkerung vollständig geimpft₁. In Niedersachsen haben 72,5% haben erste Impfung erhalten₂, was beides noch entfernt von einer Herdenimmunität ist. Bislang war meist eine Impfquote von 70% angestrebt, laut RKI sei eine Impfquote von 85% die Zielsetzung. Allerdings galt dies vor der Verbreitung der Deltavariante, weshalb eine Herdenimmunität wahrscheinlich eine noch höhere Impfquote erfordere₃. Das nächste Problem ist die steigende Hospitalisierung. In Deutschland sind aktuell über 3100 Menschen mit COVID-19 auf Intensivstationen₄, viel zu viel für unser Gesundheitssystem. Mittlerweile sind wir an dem Punkt, an dem geplante Operationen aufgrund mangelnder Ressourcen verschoben werden. Besonders auffällig ist, dass sowohl die Inzidenzen als auch die Hospitalisierungen bei Geimpften auf eher geringem Niveau stagnieren, während die Zahlen bei Ungeimpften dramatisch steigen₅. Das zeigt zum einen, dass die aktuelle Infektionslage sich in einem dramatischen Stadium befindet, aber auch, dass zumindest die Höhe der Zahlen durch eine höhere Impfrate vermeidbar wären. Es geht um Pflegende, die täglich bis ans Limit gehen, es geht um Menschen, die ihr Leben lang an den Folgen einer Infektion leiden werden, und nicht zuletzt um die 100.000 Menschen, die bisher (nur in Deutschland) aufgrund von Covid-19 verstorben sind₂.

Wie wäre es, wenn wir unsere Energien nicht darauf verwenden würden, diese Vorgaben päpstlicher als der Papst durchzusetzen, und stattdessen die Schulen als Bildungsinstitutionen mit klarem Bildungsauftrag nutzen, um zu bilden? Wie wirkt sich eine Infektion auf einen Organismus aus? Wie und wie effektiv wirken Impfstoffe? Wie lief der politische Prozess der Coronarichtlinien ab? Was ist noch Meinungsfreiheit? Wie werden Statistiken aktuell anders ausgelegt, zum Beispiel wenn es um den Zusammenhang von Hospitalisierung und Impfdurchbrüchen geht? Hier ein einfaches Beispiel von der Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim:
Stellen wir uns eine Gesellschaft aus hundert Personen vor, 99 sind geimpft, eine nicht. Nun werden die ungeimpfte Person und eine der 99 geimpften Personen mit einem schweren Verlauf auf die Intensivstation gebracht. Man könnte sagen, dass 50% der Intensivpatienten geimpft sind, aber genau so, dass von den Ungeimpften 100% hospitalisiert werden, von den Geimpften etwas mehr als 1%₅.

Und wenn das in den Schulen schon nicht möglich ist, weil wir nun einmal feste Kerncurricula haben – wie wäre es mit Luftfiltern? Seit einem Jahr im Gespräch, wurde im September von der Stadtverwaltung geprüft, in welchen Räumen diese bei uns sinnvoll wären – nämlich dort, wo nicht gelüftet werden kann. Ja, Luftfilter sind teuer und ich verlange auch wirklich nicht, dass wir in ein paar Wochen in jedem Raum einen Luftfilter haben. Aber es gibt Temperaturen, bei denen Lüften nur so semi-sinnvoll ist. Wenn ich bei 2°C Außentemperatur, Wind und Nieselregen mit Handschuhen vor einem offenen Fenster sitze, kann ich nicht mitschreiben. Macht dann aber auch nichts mehr, weil die Tinte verwischt, weil es reinregnet – ja, genauso passiert. Ich bin mir sicher, dass es einen Mittelweg gibt, auch in der Hälfte der Räume wären Luftfilter schon prima. Es ist auch nicht schlimm, wenn es langsam anläuft, es zeigt nur leider wieder einmal, welche Priorität die Schulen in der Politik haben. Doch was ist die scheinbar unausgesprochene Alternative, wenn die Inzidenzen noch weiter steigen? Ein Lockdown. Oder zumindest Szenario B, denn die meisten Infektionen gibt es aktuell in Deutschland im Alter zwischen fünf und 14 Jahren. Ich gebe zu, manchmal geht es nicht anders. Aber ich habe in meiner Abizeit fünf Monate am Stück zuhause im Homeschooling verbracht. Ich weiß, dass es in anderen Jahrgängen ähnlich aussieht und ich kann sagen – ja, es wird Lehrstoff gekürzt, manche Klausuren sind ausgefallen, aber ich kenne niemanden, der aus dieser Zeit besser herausgeht als hinein.

„Das große Zittern“ ist also nicht nur wörtlich zu verstehen. Wir alle wissen nicht, wie es weitergehen wird und das fühlt sich nicht gut an. Für Schüler*innen und Lehrkräfte. Es beginnt schon wieder damit, dass im Sportunterricht etwas angezogen wird, weil niemand sagen kann, wie lange der noch in dieser Form stattfinden kann. Ein kleiner Flashback zurück ins letzte Jahr. Ich werde schon in ein paar Monaten mein Abitur schreiben und bin mir daher zumindest etwas sicher, dass alles getan wird, um uns so viel Präsenzunterricht wie möglich zu ermöglichen. Aber das ist nur ein Jahrgang von vielen. Und diese Angst, diese Ungewissheit begleitet uns nun seit fast zwei Jahren. Zwei Jahre, in denen wir eine echte Berg- und Talfahrt mitgemacht haben. Zwei Jahre, die wirklich nicht einfach waren. Ich persönlich wünsche mir einfach nur, dass irgendwo ein Lichtblick ist, eine Hoffnung, dass es bald vorbei ist. Leider sieht es danach überhaupt nicht aus. Den einzigen Ausweg, den ich persönlich sehe, ist Herdenimmunität. Dafür müssen aber leider viel mehr Menschen mitmachen, als es aktuell der Fall ist. Ob mit Erst – oder Boosterimpfung – es sind alle gefragt. Und auch wenn ich die aktuellen Maßnahmen in Schulen durchaus kritisiere - dies ist kein Plädoyer gegen Coronamaßnahmen. Dies ist ein Plädoyer für gesunden Menschenverstand. Ein Aufruf, alles zu geben, um diese Pandemie einzudämmen. Maske tragen, Abstand halten, Hygiene, Kontakteinschränkungen und vor allem: Impfen, für wen es möglich ist!

Diesen Kommentar habe ich im November verfasst. Fast ein Vierteljahr später haben sich ein paar Kleinigkeiten verändert. Statt der Deltavariante treibt nun Omikron sein Unwesen, die Situation hat sich noch einmal verschlimmert. An unserer Schule dürfen die Treppen der Türme nun von beiden Seiten gegangen werden, die restliche Wegeregelung ist aber geblieben. Wir bekommen unsere Tests mittlerweile auch fast regelmäßig und sogar wieder über die Lehrkräfte und nicht über die arme Frau Otawa im Sekretariat. Zeitweise war für die Oberstufenschüler*innen die einzige Möglichkeit, Tests abzuholen, in den fünf Minuten zwischen Pause und Unterricht, da wir in der Pause nicht ins Schulgebäude gehen durften. Für wöchentlich knapp 250 Schüler*innen – nicht zu schaffen. Apropos Pause – kalt ist uns immer noch, das große Zittern geht weiter. Nieselregen ist kein Regen und schon gar kein Grund für eine Regenpause – schon gar nicht wenn eiskalter Wind dazukommt. Schneeregen selbstverständlich auch nicht. Dafür wird es inzwischen weitestgehend toleriert, dass wir unsere Freistunden in den Begegnungsbereichen der Türme verbringen, immerhin etwas. 

Inzwischen gibt es wöchentlich mindestens einen Coronafall alleine in meinem Jahrgang, ob wir Informationen dazu bekommen, steht meist in den Sternen. Schade, aber auch nicht weiter schlimm, im Normalfall testen sich alle (auch die Geboosterten) gerade täglich. Hatte ich früher beim Testen noch den Gedanken „Es wird schon nichts sein. Wenn doch, dann hast du hoffentlich niemanden angesteckt“. Heute empfinde ich es bei jedem Test, jeden Tag realistisch, dass ein zweiter Strich auftauchen könnte. Meine Gedanken: „Wenn dann bitte jetzt und nicht in der Klausurenphase“ oder „Wie viele Arbeiten müsste ich nachschreiben, wenn jetzt etwas passiert?“. Es ist wirklich surreal. Aber ehrlich: Wie soll ich drei Klausuren (womöglich noch in den Leistungskursen) nachschreiben, wenn ich eigentlich jetzt schon die ganze Zeit für die Abiturprüfungen selbst lernen sollte? Ich bin froh, dass ich nicht einmal mehr zwei Monate Präsenzunterricht habe, und bedauere alle Schüler*innen, die nicht wissen, wie es weitergeht, für die noch kein Ende in Sicht ist. Das große Zittern geht leider auch hier weiter. Daher hier mein Appell: Verliert nicht die Hoffnung, wir stehen das zusammen durch! Oder wie viele Lehrkräfte uns in letzter Zeit sagen: Think positive, test negative!

von Rieke D.