Druck und Erwartungen der Gesellschaft

Und schon wieder passiert es: Bevor ich drüber nachdenken kann, hab ich schon Instagram geöffnet. Eigentlich will ich ja nur bei der Tagesschau gucken, was Neues in der Welt passiert ist, aber zusammen mit dem Suchfeld öffnet sich auch der Explore-Feed, eine bunte und perfekt auf mich abgestimmte Mischung aus Rezepten, Essen und Mental-Health-Tipps.


Essen, das extra für Instagram perfekt dekoriert wurde, von dem aber vermutlich nur die Hälftegegessen wird. Die Unmengen an Toppings auf der Smoothie-Bowl in der Kokosnussschale, die aber zu viele Kalorien haben.

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Rezepte, die mit „clean“, „skinny“ oder „low carb” gelabelt sind. Als ob nicht jeder Mensch selbst entscheiden müsste, ob es für ihn clean genug ist. Jeder Mensch und jeder Körper sind anders.

Tipps, was du für mehr Selbstliebe tun kannst oder wie du am besten von deiner Essstörung recovern kannst oder auch, wie du psychischen Problemen während Corona vorbeugst.

Ganz ehrlich, wenn du psychische Probleme hast, dann such dir eine*n Therapeut*in, das ist überhaupt nichts Schlimmes. Für deine physische Gesundheit hast du eine*n Arzt*Ärztin, für deine psychische Gesundheit eben eine*n Psychotherapeut*in.

Aber merkt ihr das? Alle wollen was anderes von dir. Die einen geben dir Rezepte ohne Zucker mit möglichst wenigen Kohlenhydraten, damit du abnimmst, aber die anderen wollen dir helfen, von der Essstörung und dem Kalorienzählen wegzukommen und erzählen dir was vom intuitiven Essen.

Mein Finger wandert weiter zu den Storys. Folgte ich ursprünglich einer Influencerin, so folge ich nun einer Influencerin, die Home-Workouts postet. Weil es während Corona ja keine Möglichkeit gab, ins Fitnessstudio zu gehen.

Doch was davon musst du wirklich tun? Tja, die Antwort hängt davon ab, wen du fragst. Wenn du deine Lehrkräfte fragst, werden dir wohl die meisten antworten, dass du deine Zeit mit Lernen verbringst. Wenn du dich an Influencer*innen orientierst, sollst du ein Leben voller Sport und zuckerfreiem Essen führen. In letzter Zeit denke ich häufig darüber nach, in welchem Kulturkreis es kein Schönheitsideal ist, dünn zu sein. Spontan fällt mir nur „Die Tribute von Panem“ ein, und das ist schon echt traurig.

Viele Jugendliche scheitern allerdings daran, ihre eigenen Ansprüche zu erfüllen, denn sie wollen die Erwartungen aller anderen Menschen erfüllen. Was unmöglich ist. Ganz einfach. Lass dir von anderen keinen Druck machen, du musst nur dir selbst genügen. Ich weiß, das sagt sich so einfach, aber das ist es definitiv nicht. Ich bekomme es auch nicht hin. Meine eigenen Ansprüche an mich selbst übersteigen konsequent die der Gesellschaft an mich. Daraus ergibt sich, dass ich ständig unter Druck stehe, überall 120 Prozent geben zu müssen. Manchmal bin ich nicht mal mit 14 Punkten zufrieden, denn ich hätte ja auch 15 erreichen können. Und im nächsten Moment denke ich mir, wie bescheuert es doch ist, dass ich mit einer glatten 1 nicht zufrieden bin. So viel Druck üben nicht einmal Lehrkräfte aus. Nein, die üben einen sehr viel zerstörerischen Druck auf mich aus: Um eine gute Note zu bekommen, musst du dein komplettes Wesen verändern, wie viel Kraft es dich auch kosten mag. Was denken sich andere Menschen dabei, solche Erwartungen an andere zu stellen? Wenn wir schon mal in der Schule sind: Mitschüler*innen spiegeln ein falsches Bild der Gesellschaft wider. Zum Beispiel waren 99 Prozent meiner alten Klasse groß und dünn. Also hab ich mich immer klein und dick gefühlt. Wenn ich aber in Hannover war, hab ich mich sogar groß gefühlt. Jetzt nicht dünn, aber wenigstens durchschnittlich. Einfach weil da nicht so viele große, dünne Menschen rumlaufen. Trotzdem hab ich mich permanent unter Druck gesetzt gefühlt, genauso „gut“ sein zu müssen wie die anderen.

Aber auch Freund*innen und Eltern üben Druck aus. Meistens stellen Eltern die Erwartung, dass du ähnliche Interessen hast wie sie. Meine Eltern arbeiten beide in der IT-Branche, ich soll also in der Schule Informatik wählen und später am besten was mit Informatik studieren. Klar, die Jobs sind da ganz sicher, die haben Zukunft. Immerhin sehen meine Eltern ein, dass ich in eine andere Richtung gehen möchte, da kenne ich auch ganz andere Familien. Bei Freunden und Freundinnen sag ich jetzt einfach mal, dass es nicht mit Absicht ist. Sie haben ja vielleicht auch noch maximal das Recht, kleine Erwartungen an dich zu haben.

Aber Lehrkräfte? Sorry, aber ganz sicher nicht. Wenn ich seit fünf Jahren Angst davor habe, vor der Klasse zu reden, dann werde ich das bestimmt nicht von heute auf morgen nur für Sie ändern können. Es muss auch andere Wege geben, eine gute mündliche Note zu erreichen. (Manche Lehrkräfte zeigen ja, dass es möglich ist.)

Ich will jetzt nicht so tun, als würde ich nie Erwartungen an jemanden haben. Das passiert, glaube ich, unterbewusst. Ich denke aber besonders darüber nach, weil ich an den Erwartungen der Gesellschaft scheitere. Immer über alles, was auf der Welt passiert, informiert zu sein, aber keine Zeit am Handy oder vor dem Fernseher verbringen? Hä? Die Gesellschaft oder Teile der Gesellschaft widersprechen sich gegenseitig, und du kannst dich nicht zerreißen. Niemand kann das.

Dass das jetzt zum Schluss auch noch mal klar wird: Nur weil ich hier gendere, erwarte ich nicht, dass ihr das auch tut. Das ist eure Sache. Nur weil ich Probleme mit unserer Gesellschaft habe, erwarte ich nicht von euch, dass ihr das auch alle habt und mich versteht. Manche kommen mit dem Druck und den Erwartungen besser klar als ich. Und wenn ihr jetzt nach einem Praxistipp sucht: Ich hab leider keinen für euch, weil ich noch keinen Weg gefunden habe, der für mich funktioniert. Mir hilft es, die Menschen auf ihr Verhalten anzusprechen und das zu klären, oder wenn es gar nicht geht, mit einer Vertrauensperson darüber zu sprechen. Das kann meine Therapeutin sein oder aber auch eine Freundin oder eine Lehrkraft.

Letztendlich muss aber jeder Mensch für sich selbst ausprobieren, was hilft.

Von Lina S.